VeRa – verquer. Radio – läuft in allen ungeraden Kalenderwochen mittwochs um 22 Uhr auf radio98eins. Diese Sendung lief am 25. Mai 2016 auf radio98eins.
Sendungsnotizen zum Nachlesen:
00: ASA und ICH: oder: was soll das Ganze
Ein persönlicher Kommentar von Judith Rohleder
Den Entschluss am ASA-Programm teilzunehmen traf ich eher beiläufig, ja sogar unbedacht. Einfach mal weg nach einem Jahr Masterarbeits-Trubel. Die erste richtige Reise ins außereuropäische Ausland, und das noch teilfinanziert. Naja, und dem sich an mein geisteswissenschaftliches Studium notwendigerweise anschließenden 40 Stunden Bürojob könnte ich so auch entkommen, zumindest vorerst.
Die ganz normalen Motive für die Teilnahme an einem Auslandsprojekt also.
Ah nein, ich kann an dieser Stelle natürlich nur für meinen eigenen Egoismus sprechen…
Für mich machte es vor allen Dingen Sinn um meine Portugiesisch-Kenntnisse weiter zu vertiefen. Ich bewarb mich also auf zwei Projekte, eins in Mozambique – mein Favorit, das andere in Brasilien.
Ich bin mir sicher, dass ich an keinem Punkt dachte, ich hätte aufgrund meiner Sozialisierung in Deutschland irgendwelche Kompetenzen die anderswo dringend gebraucht würden aber vor Ort nicht zu finden seien.
Ich kann mich allerdings aber auch genauso wenig daran erinnern, mich im vorhinein gefragt zu haben, inwiefern das Projekt von meiner Anwesenheit profitiere, abgesehen davon dass ich eben eine Arbeitskraft bin die von Deutschland aus finanziert wird.
Es wurde Brasilien, genauer Pomerode. Ausgerechnet die „deutscheste Stadt Brasiliens“? Kurze aber heftige Enttäuschung. Schließlich wollte ich doch mal so richtig anders leben. Ich meinte wohl vor allem unter Anderen Leben.
Bildungsarbeit zum Thema Migration damals und heute hatte aus professioneller und inhaltlicher Sicht zumindest Potential.
Vom Begriff Projekttourismus hatte ich da noch nichts gehört. Die Benennung von globaler Süden und globaler Norden empfand ich im Vergleich zum Gerede von Entwicklungszusammenarbeit als progressiver.
Inzwischen sind zwei Monate der Nordphase in Greifswald vergangen und es ist viel passiert, vor allem in meinem Kopf. Ursprünglich sollte dies ein kritischer Kommentar über das ASA-Programm werden. Doch beim Schreiben musste ich mir eingestehen, dass die Verbindung von Theorie und Praxis, also die Begleitung des Projektpraktikums durch die ASA-Seminare, in meinem Fall den Anstoß zu einem sehr intensiven Lern- und vor allem Bewusstwerdungsprozess gegeben hat, den ich durchweg als positiv bewerte.
Ganz konkret bedeutet das für meine Teilnahme am ASA-Programm zum Beispiel, dass ich den Südpartner nicht als Tourismusdienstleister missbrauche, mir also Unterkunft und Fahrrad selber organisieren werde. Ich bin nun doch froh, am Pomerode-Greifswald Projekt teilzunehmen, da hier ein beidseitiger Austausch stattfindet. Das Projekt in Mozambique hat keine Nordphase,dh der Wissens- und Erfahrungszuwachs liegt vor allem bei den deutschen Teilnehmer*innen.
Mir ist klar geworden, dass Othering, „die anderen zu Anderen machen“, selbst wenn es ja gar nicht böse gemeint, sondern „was mit Interesse, Vereinfachung, Ordnung und so zu tun hat“ ein rassistischer Mechanismus ist, der eine Reduzierung von Individualität auf konstruierte einheitliche Gruppenmerkmale darstellt und irgendwie auch mit eigener Profilierung zu tun hat.
Dazu gehört weiterhin, dass ich in Brasilien darauf achten werde keinen Voyarismus a lá Weltausstellung in Paris 1900 an den Tag zu legen und mit einem Foto oder Bericht gängige Klischees nicht noch zu bedienen.
Rassismus dient seit dem 15. Jahrhundert bis heute unverändert
als Legitimationsgrundlage der Weiß dominierten globalen Dynamik. Ich beginne gerade erst zu verstehen wie tief verwurzelt Rassismus in meiner Erziehung ist, obwohl ich die Menschen in meiner direkten Umgebung niemals als Rassisten wahrgenommen habe und sie sich selber ganz sicher auch nicht. Die breite Zustimmung bzw. der sehr marginale Widerstand gegen das rassistische System lässt sich u.a. wohl damit erklären, dass Bewusstsein stark an Erfahrung gekoppelt ist. Kurz gesagt: Da ich Rassismus nicht erfahre, ist mir das Ausmaß der rassistischen Durchsetzung meines Alltags nicht bewusst, gleichwenn mir klar ist wer in der Welt Profiteur und wer Ausgebeuteter ist.
Außerdem hat sich über die Jahrhunderte koloniales, „weißes“ Wissen als die Wahrheit etabliert. DIE Wahrheit!
Mir ist klar geworden, dass Rassismus bei mir anfängt und es meine Aufgabe ist mich mit meinem Weißsein und den damit verbundenen Privilegien auseinanderzusetzen und diese vor allem einzusetzen.
Wenn es in der Programmbeschreibung zu ASA-SüdNord heißt, es gehe um eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe, unterstellt diese Aussage dem Leser, er würde aus irgendwelchen Gründen davon ausgehen diese Augenhöhe bestehe nicht. Und auch die Einteilung in globaler Süden und globaler Norden reproduziert gewissermaßen rassistische Denkmuster.
Möglicherweise kann eine Normalisierung des Umgangs von Menschen mit Menschen als Individuen ohne die Notwendigkeit einer lokalen, ethnischen, sozialen Zuschreibung erst der zweite Schritt sein. An erster Stelle stünde dann überhaupt erst einmal das Bewusstsein dafür zu erzeugen, dass wir dazu erzogen wurden, Menschen zu kategorisieren, Andere von uns abzugrenzen und als homogene Gruppe zu charakterisieren um, ja, uns unserer Selbst sicher zu sein.?
Ja, ich bin privilegiert. Ich kaufe mir ein Ticket und fliege nach Brasilien. Einfach so. Dort mache ich mir ne schöne Zeit. genieße die Sonne und den Strand. Klar, ich werde mich auch weiterbilden und mit Jugendlichen aus Pomerode über die geflüchtete Menschen aus Haiti sprechen und wenn es sehr gut läuft, schaffen wir es als Gruppe auch ein paar von ihnen für die Rassismusproblematik in Brasilien zu sensibilisieren.
Was das Ganze soll?
Im Idealfall würde ich sagen: Je mehr Menschen individuelle Erfahrungen der direkten Begegnung machen, desto häufiger können etablierte Stereotype aufgebrochen, anerzogenes koloniales Wissen als solches entlarvt und relativiert bzw. revidiert werden.