Wie „grenzenlos“ ist unsere Solidarität?

Aus aktuellem Anlass und unserer Betroffenheit möchten wir die Stellungnahme von DaMigra teilen.

Ukraine Krieg: Wie „grenzenlos“ ist unsere Solidarität?

Stellungnahme

Seit 8 Jahren herrscht in der Ukraine Krieg. Seit nunmehr einer Woche hat die russische Regierung diesen Krieg auf die gesamte Ukraine ausgeweitet und bricht damit erneut vielfach das Völker- und Menschenrecht. Wir unterstützen die Sanktionen gegen den russischen Staat, die Oligarchen und alle anderen Kriegstreiber*innen in Russland. Dabei ist zu beachten: Diese Sanktionen dürfen nicht die breite russische Bevölkerung treffen und den Zugriff auf lebensnotwendige Güter wie Medikamente etc. versperren. Unbeteiligte des Krieges dürfen nicht zur Zielscheibe werden. Darum unterstützen wir auch die Solidaritätsbekundungen gegenüber der ukrainischen Bevölkerung. Es gilt, alle Maßnahmen zu ergreifen, um die Vielzahl flüchtender Frauen und Kinder und die im Land verbliebenen Menschen in Sicherheit zu bringen und den Krieg zu stoppen.

Gleichzeitig sind wir fassungslos, wenn wir auf die vielen Schicksale derer schauen, die noch vor kurzer Zeit aus Deutschland in das vermeintlich sichere Herkunftsland Ukraine abgeschoben wurden. So erging es auch Tatjana S., einer Ehrenamtlichen bei DaMigra. Nach sechs Jahren in Deutschland wurde sie und viele andere Ukrainer*innen im Jahr 2021 abgeschoben. Nun suchen sie hier erneut Schutz. Heute stuft das Bundesinnenministerium (BMI) das reguläre Visumsverfahren als nicht zumutbar ein und plädiert für eine unbürokratische Lösung bei der Aufnahme von flüchtenden Menschen aus der Ukraine[i]. Wir fragen uns: Warum passiert es immer wieder, dass Menschen in Kriegsregionen abgeschoben werden, obwohl die Lage der Länder vor Ort bekannt sein müsste? Geht es hierbei um ein Unwissen und eine mangelnde Lernbereitschaft der Bundesregierung? Oder handelt es sich vielmehr um ein innenpolitisches Kalkül, Geflüchtete und Hilfesuchende so lange wie möglich außerhalb der EU-Grenzen zu verweisen, obwohl gleichzeitig bekannt ist, dass es für sie nicht sicher ist?

Als die Taliban im vergangenen August in Afghanistan einmarschierten, handelte die Bundesregierung viel zu spät und seit nunmehr einem halben Jahr erfolgen keine rettenden Evakuierungsflüge aus dem Land. Kurz bevor die Taliban aber das Land komplett einnahmen und sich die Bundeswehr zurückzog, schob die Bundesregierung afghanische Menschen zurück nach Afghanistan ab[ii]. Weiterhin befinden sich auch afghanische Geflüchtete an den Außengrenzen Europas.

Der jetzige Krieg in der Ukraine führt bisher zu knapp 600.000 Geflüchteten [iii], die nun auch an jenen Grenzen Hilfe suchen. Die Behörden in der Ukraine warnen, dass bis zu fünf Millionen Menschen flüchten könnten[iv]. Dabei sind Männer zwischen 18 und 60 Jahren gehalten, im Land zu bleiben und Wehrdienst zu leisten. Von dieser Regelung sind auch Transpersonen betroffen, in deren Pass die Eintragung ‚m‘ für männlich steht. Vor allem viele Frauen und Kinder fliehen derzeit aus dem Land. Darüber hinaus versuchen auch zahlreiche LGBTQIA+-Personen sich in Sicherheit zu bringen, aus Angst vor zunehmender Verfolgung. Während der Flucht drohen ihnen zusätzliche Ablehnung, Repression und Gewalt. Die Geflüchteten verbrachten oftmals mehrere Tage an Grenzübergängen frierend in der Kälte. Wenig Erwähnung finden die in der Ukraine lebenden rund 16.000 Studierenden aus afrikanischen Ländern (überwiegend Nigeria, Marokko und Ägypten), die Berichten zufolge keine Unterstützung von den jeweiligen Botschaften in der Ukraine für ihre Ausreise erhalten[v]. Auch für geflüchtete Menschen, Ältere und Menschen mit Behinderungen gestaltet sich die Flucht besonders schwierig. Berichten zufolge wird der Zugang zu Zügen und Bussen in der Ukraine Schwarzen Menschen erschwert. Die ukrainischen Sicherheitsbeamten priorisieren laut verschiedenen Medienberichten weiße Ukrainer*innen[vi]. Menschen, die kein Ukrainisch sprechen, erhalten nur schwer Informationen, wie sie das Land sicher verlassen können. Dabei sind es überwiegend Einzelpersonen sowie u .a. antirassistische Initiativen, welche derzeit Hilfs- und Informationsstrukturen aufbauen und betreuen. Diese Geschehnisse zeigen erneut: Auch auf der Flucht werden nicht alle Menschen gleichbehandelt, einige rassistisch und/ oder sexistisch bedroht. Die geflüchteten Frauen aus der Ukraine berichteten uns und berichten auch heute noch, dass insbesondere in Luhansk und Donezk seit Jahren jegliche geschlechtsspezifische Gewalt zugenommen hat. Diese Bilder kennen wir auch aus Syrien, Irak, dem Libanon und vielen anderen Kriegsregionen dieser Welt.

„Wir müssen vor allem in Krisensituationen ein besonderes Augenmerk auf die ohnehin schon benachteiligten Gruppen und ihre Lage legen. Es ist nicht für alle Menschen dasselbe, sich auf die Flucht zu begeben, sie starten mit unterschiedlichsten Voraussetzungen: Mit oder ohne Kontakte im Ausland, mit oder ohne körperliche Einschränkungen, mit oder ohne finanzielle Ressourcen. Rassismus, Sexismus und Klassismus hören weder an dem Ort auf, an dem sie ihre Reise beginnen, noch dort, wo sie endet“, sagt Dr. Delal Atmaca, Geschäftsführerin von DaMigra e. V.

Währenddessen beobachten wir in Deutschland Anfeindungen gegen aus Russland stammende Menschen, oder Menschen, die für Russ*innen gehalten werden – auf der Straße und in den Sozialen Medien[vii][viii]. Sie werden für Putins Krieg beleidigt und beschimpft. Es ist aber nicht die russische Bevölkerung, die Krieg gegen die Ukraine führt, sondern der autokratische Staat, der seinen eigenen Bürger*innen das Recht auf freie Wahlen, Meinungs- oder Pressefreiheit verwehrt! Diese wahllosen Beschimpfungen und Schuldzuweisungen an einzelne in Deutschland lebende Menschen weisen wir vehement zurück. Wir unterstützen die vielen mutigen Menschen in Russland, die trotz drohender Repression und Inhaftierung gegen den Krieg protestieren und Informationsarbeit betreiben! Auch hier in Deutschland erheben mutige Russ*innen ihre Stimme und zeigen sich solidarisch.

Was wir brauchen ist eine intersektionale Perspektive auf die bestehende Flucht- und Migrationspolitik der EU. Was wir auch brauchen ist Solidarität gegenüber ALLEN Menschen, die auf der Flucht sind. Denn jede Flucht geschieht erzwungenermaßen. Menschen haben keine Wahl und müssen in Kriegssituationen ihr Land verlassen und in Ländern fernab ihrer Heimat Schutz suchen. Wir appellieren daher für eine Menschlichkeit und Solidarität mit ALLEN Geflüchteten — unabhängig von Hautfarbe oder Erstsprache — und dafür, die vulnerabelsten unter ihnen nicht zu vergessen.

Wir fordern: Eine unkomplizierte Verteilung und Unterbringung ALLER Menschen, die sich auf der Flucht befinden. Wir fordern sichere Fluchtwege und eine schnelle Aufnahme aller gefährdeten Menschen an den EU-Außengrenzen. Vor allem aber fordern wir ein grundsätzliches Umdenken in der Migrationspolitik der EU, die sich nicht erst solidarisch zeigt, wenn sich Westeuropa selbst gefährdet sieht.

DaMigra e.V. ist die Interessenvertretung von Migrantinnenselbstorganisationen und ihren Belangen und setzt sich für Chancengerechtigkeit, gleichberechtigte Teilhabe und für die Gleichstellung von Frauen mit Migrationsgeschichte und Fluchterfahrung in Deutschland ein. DaMigra verfolgt den Ansatz des Antirassistischen Feminismus.

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